Erlebnisbericht: Be the first bird - Vogellauschen auf dem Friedhof
Sie möchten auch einmal beim Vogellauschen auf dem Friedhof dabei sein? Informieren Sie sich hier zu den Anmeldungsmöglichkeiten.
8. Mai 2024
Es ist kurz nach 17 Uhr an einem Freitag. Bei einer für Anfang Mai recht sommerlichen Temperatur steige ich ausgerüstet mit Schlafsack, Isomatte und vollgepacktem Rucksack in eine völlig überfüllte Tram. Ich bin auf dem Weg zu einer Aktion, die meine Sinne schärfen wird und mein Herz jetzt schon etwas schneller schlagen lässt: Heute übernachte ich auf einem Friedhof! Kein alltägliches Vorhaben, um das Wochenende einzuläuten – aber insgeheim ein Abenteuer, das meine wildesten Kindheitsträume wiederbelebt.
Ort der Stille: Ein Vogelparadies
Es wird heute allerdings weniger darum gehen, mich zu gruseln, sondern vielmehr darum, die lebendigen und stimmgewaltigen Bewohner des Friedhofes kennenzulernen: Das Projekt „Be the first bird – Vogellauschen auf dem Friedhof“, das die Stiftung Naturschutz Berlin aus Stiftungsmitteln fördert, lädt nämlich dazu ein, bei einer Übernachtung auf dem Friedhof Sankt Elisabeth II die Gesänge der „frühen Vögel“ zu hören. Dabei können die Teilnehmer*innen die verschiedenen Vögel der Stadt kennenlernen und mehr über sie, ihre Stimmen und ihre Lebensräume erfahren. Gerade auf Friedhöfen sind Vögel ziemlich ungestört: Hier ist es ruhig, es gibt viele Rückzugsmöglichkeiten und nachts ist das Gelände menschenleer. Normalerweise.
Am Eingang zum Friedhof treffe ich um kurz nach 18 Uhr auf meine Abenteuer-Crew: Zwei Frauen verschiedenen Alters, die alleine gekommen sind, eine dreiköpfige Familie bestehend aus Vater, Mutter und Kind, eine Mama mit ihren zwei kleinen Töchtern sowie Micha und Eike – die Veranstalter. „Toll, dass ihr da seid!“, sagt Micha und strahlt über das ganze Gesicht. Die beiden ausgebildeten Wald- und Wildnispädagogen haben zusammen mit Projektleiter Michael Grosch und anderen Pädagogen das Konzept entwickelt und starten heute im zweiten Jahr in die Veranstaltungsreihe. Mit Sack und Pack gehen wir vom Friedhofseingang, vorbei an Grabsteinen, einen breiten Weg hinunter. Der 11 Hektar große Friedhof liegt in leuchtendem Grün, Bäume und Pflanzen wuchern hier in voller Pracht. Wir laufen auf die Kapelle zu: Erbaut im Jahr 1887 steht das rote Backsteingebäude unter Denkmalschutz.
Zuerst können wir uns ein Plätzchen für die Nacht aussuchen: In der Kapelle, auf der überdachten Veranda oder auf der angrenzenden Wiese dürfen wir unser Nachtlager aufschlagen. Ich lege Isomatte und Schlafsack erstmal unter eine Kastanie.
Es ist etwa 19 Uhr, Micha und Eike bringen uns zu einer Kennlernrunde auf der Wiese zusammen. Auf dem Friedhof lassen wir jetzt nicht nur unseren Alltag, sondern auch unsere Nachnamen hinter uns: Jeder bekommt eine Vogelkarte mit dem Steckbrief eines Singvogels, und ich werde zu Christina Nachtigall. Ob wir wohl heute Nacht eine hören?
Micha Zaunkönig und Eike Mönchsgrasmücke erklären anhand der Karten, welche Vögel hier leben und weshalb der Friedhof ein guter Lebensraum für sie ist. Bei kleinen Spielchen prägen wir uns die Namen aller Vögel gut ein. „Zilpzalp? Den Namen habe ich vorher noch nie gehört“, sagt ein Teilnehmer. „Der heißt tatsächlich so, weil sein eingängiger Gesang genau so klingt“, erklärt Micha.
Dann haben wir etwas Zeit, allein den Vögeln zu lauschen: Dabei suchen wir uns einen ruhigen Ort zum Hinsetzen oder Hinlegen. Wer möchte, kann dabei eine Augenbinde tragen, denn so verstärkt und fokussiert sich das Gehör. Amseln zwitschern, Tauben gurren, ein leichter Wind bringt die Wipfel der hohen Bäume zum Rauschen. Die Stille auf dem Friedhof ist gar nicht so still! Wie klingen die Gesänge? Welche Laute finden wir besonders auffällig? Können wir sie imitieren?
Mit einem Vogelruf holt Micha uns wieder zurück auf die Wiese. Hier sammeln wir unsere Eindrücke. „Ein Vogel macht immer Zi-Zi-Bäh, Zi-Zi-Bäh“ sagt eine Teilnehmerin. „Das ist die Kohlmeise mit ihrem eingängigsten Laut“, sagt Eike. „Ihre Gesangspalette ist sehr breit aufgestellt, aber das Zi-Zi-Bäh ist charakteristisch für sie. Manche sagen auch, das klingt wie eine Fahrradpumpe.“
Der Sicherheitsdienst beendet seinen Kontrollgang, und wir gehen alle zusammen über den Friedhof. Es ist noch nicht dunkel, aber das Tageslicht verabschiedet sich langsam. Immer wieder bleiben wir stehen und lauschen in die Wipfel. „Da! Hört ihr es?“ Eike hebt den Zeigefinger. Zwei Amseln scheinen sich miteinander zu unterhalten. Er hält den Finger so lange oben, bis die Vogelstimmen verstummen. Sobald sie wieder anfangen, schnellt sein Zeigefinger wieder in die Luft, alle tun es ihm nach. „Am Gesang kann man nicht nur die Vogelarten erkennen – er verrät auch, was sie sich erzählen“, sagt Micha. Sie stoßen Lockrufe aus, um Artgenossen anzuziehen, warnen andere bei Gefahr oder versuchen, Weibchen zu beeindrucken.
Nützliche Eselsbrücken helfen uns dabei, die Gesänge besser zuzuordnen. So prägt Micha uns den Ruf der Ringeltaube mit dem Satz ein: „Gudruuun du, hör gut zuuu, du!“ Der Buchfink stottert anhand seiner Gesangsmelodie: „Das-das-das-das-das-ist MEIN BAUM!“ Die beiden Experten haben kleine Vogelmodelle aus Holz in Originalgröße dabei und zeigen sie, sobald wir den entsprechenden Vogel gehört haben. Denn zu Gesicht bekommen wir in der Dämmerung fast keinen von ihnen. Umso beeindruckender ist ihr lautstarker Gesang. Unglaublich, was für kräftige Stimmen diese zarten Wesen haben!
20:30 Uhr
Beim Wandern über den Friedhof hören und sehen wir vor allem Amseln, die sich in der Dämmerung lautstark verständigen. Eike spricht von einem „Amselteppich, der sich über alles legt“. In der Ferne donnert es jetzt, Regentropfen fallen. Wir haben unseren Rundgang rechtzeitig beendet, bevor ein ausgiebiger Regenschauer losbricht. Mit der Übernachtung auf der Wiese wird es heute wohl nichts! Also breiten wir uns auf der überdachten Veranda der Kapelle aus. Eike und Micha bringen eine Feuerschale heran, wir packen unseren Proviant aus und unterhalten uns.
Circa 22 Uhr
Ich komme in einen Zustand entspannter Dösigkeit. Die Ruhe auf dem Friedhof, die frische Luft, die Dunkelheit, das flackernde Feuer – es braucht nicht vielmehr und ich schlafe ein.
Irgendwann nachts
Die Stadt ist laut in der Ferne und aus meiner Perspektive wirken die Bäume noch viel größer. Im Halbschlaf höre ich das eingängige Geräusch der S-Bahn, auch den Wind. Dann wird es wieder still und ich sinke in einen Schlaf voller lebhafter Träume.
03:45 Uhr
Es raschelt, die Tür der Kapelle knarzt, Micha und Eike sind schon auf den Beinen und kochen Tee und Kaffee für alle. In bunten Emaille-Tassen servieren sie uns das erste Getränk des sehr frühen Morgens. In der Dunkelheit singt schon der Hausrotschwanz. In meinen Schlafsack eingewickelt mache ich mich auf den Weg zu den Toiletten, vorbei an Grablichtern und entlang der dunklen Bäume. Über dem Friedhof liegt eine tiefe Ruhe, in die immer wieder ein Vogel hineinruft, gefühlt ist es noch mitten in der Nacht. Das vereinzelte Vogelgezwitscher wird langsam mehrstimmig.
04:30 Uhr
In der Gruppe ziehen wir gemeinsam los, schleichen behutsam über die Wege, bleiben immer wieder stehen. Eike hebt in bekannter Geste den Finger. Hier trällert die Amsel, hier tönt das Sommergoldhähnchen, auch der Zilpzalp ist schon wieder wach und Guuudruuun braucht wohl auch nicht so viel Schlaf. In seinem Beutel trägt Eike wieder die kleinen Vogelmodelle, und sobald wir eine Vogelstimme wiedererkennen, überreicht er das entsprechende Modell an die- oder denjenigen, der es zuerst zuordnen kann. Immer mehr Vögel stimmen in das morgendliche Getöne mit ein, und wir lauschen fasziniert jeder Vogelstimme hinterher. Am Ende zeigen die Modelle, wie vielfältig das Konzert war: Neben der Amsel und der Taube begegneten uns Buchfink, Zilpzalp, Mönchsgrasmücke, Blaumeise, Kohlmeise, Rotkehlchen und Sommergoldhähnchen.
06:45 Uhr
Für mich war das ein ganz tolles Erlebnis“, erzählt ein Teilnehmer in der Abschlussrunde, als die ersten Sonnenstrahlen um die Kapelle kriechen. „Ich wusste bis gestern noch gar nicht, dass es einen Vogel gibt, der Zilpzalp heißt, und jetzt kann ich ihn sogar an seinem Ruf erkennen.“ Eine andere Teilnehmerin sagt: „Ich interessiere mich schon eine ganze Zeit für das Erkennen von Vogelstimmen, wusste aber nicht so genau, wie ich damit anfangen kann. Die Übernachtung auf dem Friedhof hat mir eine tollen Einstieg ermöglicht.“ Auch die drei Mädchen, die dabei sind, fanden die Nacht und den frühen Morgen spannend. „Besonders gut hat mir gefallen, als wir gestern mit verbundenen Augen den Vögeln zugehört haben“, sagt eines der Mädchen. Zum Abschied dürfen wir uns aus einem kleinen Stöckernest, das die Kinder am Vorabend gebaut haben, ein „Ei“ nehmen. Jedes enthält einen Spruch. Christina Nachtigall liest auf ihrem Zettel: „Lieber einen Vogel haben, als alle Tassen im Schrank.“
07:15 Uhr
Wir verabschieden uns am Friedhofstor. Die Begeisterung der Veranstaltung ist bei allen deutlich zu spüren. Ein Mädchen hat ein Stück Kohle gefunden und damit eine riesige Amsel auf den Boden gemalt. Sie ist völlig schwarz verschmiert und lächelt glücklich. Ich gehe leicht übernächtigt und vollgepackt zurück zur Tramhaltestelle und warte. Im Baum am Gleis höre ich es rufen: „Gudruuuun du, hör gut zuuu, du!“
Christina Koormann