Pflanze des Monats Dezember 2023
Gottes-Gnadenkraut Gratiola officinalis
Die Adventszeit steht vor der Tür, die Stimmung wird besinnlicher, doch die Tage auch kürzer und dunkler. Viele Menschen umgeben sich daher jetzt im Winter mit Pflanzen, die auch in der kalten Jahreszeit für etwas Farbe sorgen. Aufgrund der ungünstigen Witterung ist die heimische Auswahl jedoch häufig auf Mistel und Tannenbaum beschränkt, während im Handel der allgegenwärtige Weihnachtsstern vorherrscht.
Der Name unserer aktuellen Pflanze des Monats passt eigentlich perfekt in diese Zeit: Gratiola officinalis, das Gottes-Gnadenkraut. Sie ist keine wintergrüne Pflanze und eignet sich glücklicherweise nicht als massenhaft vermehrbares Weihnachtsaccessoire. Der besinnlich klingende Gattungsname Gratiola leitet sich vom lat. Wort gratia (Gnade) ab und weist auf ihre frühere Verwendung als universelle Heilpflanze hin. Doch die Zeiten haben sich geändert: Heute gelten alle Bestandteile der Art als stark giftig und werden in der Schulmedizin nicht mehr eingesetzt.
Eine Freude für Wildbienen
Das Gottes-Gnadenkraut gehört zur Familie der Wegerichgewächse (Plantaginaceae) und wächst als mehrjährige, sommergrüne Pflanze bis zu 40 cm hoch. Die Pflanze ist eine Bewohnerin nasser und wechselfeuchter Standorte. Dort bildet sie kurze unterirdische Ausläufer und entwickelt im Laufe der Zeit kleine Bestände, die meist nur wenige Quadratmeter bedecken. Der Stängel wächst aufrecht und ist kreuzgegenständig beblättert, wobei die lanzettlichen und meist gesägten Blätter den Stängel halb umfassen. Durch eingesenkte Drüsen erscheinen die 2 bis 5 cm langen Blätter punktiert.
Die lang gestielten Blüten stehen einzeln in den Blattachseln. Sie sind 10 bis 18 mm lang und bestehen aus fünf zu einer Röhre verwachsenen Kronblättern. Die leicht gebogene Kronröhre endet in einer Ober- und Unterlippe und ist blassrosa bis weiß gefärbt. Das Innere der Röhre ist gelblich mit einem behaarten Schlund, in dem zwei Staubblätter sitzen. Damit ist sie eine typische (wild-) bienenbestäubte Blüte, in der der Pollen auf dem Rücken der hineinkriechenden Insekten platziert wird. Nach der Befruchtung entsteht eine tropfenförmige, etwa 5 mm lange Kapselfrucht. Diese enthält zahlreiche winzige Samen, die wegen ihrer geringen Größe durch den Wind über große Distanzen ausgebreitet werden können.
Pioniere in nassen Lebensräumen
Die Ausbreitungsart ist eine Anpassung an ihre Lebensweise als Pionierpflanze: Sie besiedelt offene Stellen an häufig gestörten, staunassen Standorten oder auch Ufer von Flüssen oder Seen, die periodisch für längere Zeit überflutet werden. Da solche Lebensräume häufig unbeständig sind, ist eine möglichst weite Ausbreitung über den Wind das Mittel der Wahl. Ihre Ansprüche an den Boden sind recht gering. Sie gibt sich mit schwach sauren Torfböden bis zu mäßig nährstoffreichen, basischen oder kalkhaltigen Lehmböden zufrieden und erträgt sogar Salz oder längere Überschwemmungen. Wichtiger für die Etablierung der Art scheint das Vorhandensein von offenem Boden zu sein sowie eine niedrige Vegetation, durch welche sie nicht beschattet wird. Dies zeigt sich auch daran, dass das Gottes-Gnadenkraut an keine bestimmte Pflanzengesellschaft gebunden ist. Es kommt in Seggenrieden, Röhrichten, Feuchtwiesen oder auch Flutrasen vor.
Als wärmeliebende und an wechselfeuchte Standorte angepasste Pflanze kommt Gratiola officinalis besonders in den Stromtalauen der in Europa und im westlichen Asien liegenden Tiefländer vor. In Großbritannien, Skandinavien und den Hochgebirgslagen ist sie hingegen nicht zu finden. Ihr geschlossenes Verbreitungsgebiet erstreckt sich von den Pyrenäen im Westen über den Balkan bis zum Ural im Osten. Außerhalb dieses Gebietes kommt sie auch im Nordwesten Spaniens sowie im westsibirischen Tiefland und im Tiefland Kirgisistans östlich des Altai-Gebirges vor.
Erst gefördert, jetzt verdrängt
Aufgrund seiner Standortansprüche nehmen die Vorkommen des Gottes-Gnadenkrautes aktuell stark ab. In Deutschland gilt die Art als stark gefährdet.und laut Bundesnaturschutzgesetz steht sie unter besonderem Schutz. Graciola officinalis ist in Teilen seines Verbreitungsgebietes vermutlich ein Archäophyt, der vor langer Zeit mit dem Menschen eingewandert ist und durch die traditionelle Landnutzung gefördert wurde. Dazu gehörte die Nutzung von Feuchtgebieten als Mähwiesen, in denen konkurrierende Vegetation kurzgehalten wurde. Eine extensive Beweidung oder der Einsatz von Pferdegespannen haben immer wieder offene Stellen im Boden geschaffen und damit die Voraussetzung für die Keimung von Jungpflanzen.
Diese Form der Nutzung existiert heute nicht mehr, wird aber wieder als Naturschutzmaßnahme eingesetzt, um artenreiche Feuchtwiesen zu erhalten. Aktuell wandern in diese Lebensräume zusätzlich hochwüchsige invasive Arten wie die Kanadische Goldrute (Solidago canadensis) ein. Ein großes Problem stellt auch die fast vollständige Regulierung der europäischen Flüsse dar, wodurch Uferbereiche nur noch selten überschwemmt werden und geeignete Habitate für das Gottes-Gnadenkraut schwinden.
Grund zur Hoffnung
In Berlin kam die Pflanze bis Ende des 19. Jahrhundert noch in Stralau, Tempelhof, Lankwitz, Weißensee, am Müggelsee und sogar auf den damaligen Wiesen vor dem Frankfurter Tor vor. Inzwischen ist sie in Berlin verschollen und gilt als ausgestorben. Von einem der letzten Berliner Fundorte, einer artenreichen Wiese an der Spree beim Reichstag, wurden bereits Mitte der 1980er Jahre Exemplare in eine private Erhaltungskultur genommen. In den 1990er Jahren wurde die Spreewiese und mit ihr das Vorkommen vom Gottes-Gnadenkraut im Rahmen von Baumaßnahmen für das Regierungsviertel vernichtet. Die geretteten Pflanzen wurden 2002 an den Botanischen Garten Berlin übergeben. Dort in der Erhaltungskultur vermehrten sie sich sehr gut, sodass 2017 ein Teil für eine Ausbringungsmaßnahme der Koordinierungsstelle Florenschutz zur Verfügung stand. Auf einer naturschutzfachlich gepflegten Feuchtwiese in Köpenick wurden sie wieder ausgewildert. Bis sich die Art dort sicher etabliert hat, gilt das Gottes-Gnadenkraut in Berlin aber weiterhin als verschollen bzw. ausgestorben.
Sollte Ihnen auf Ihren Spaziergängen das Gottes-Gnadenkraut begegnen, freuen wir uns sehr über eine Fundmeldung per E-Mail mit Fotobeleg. Und falls Sie in Ihrem Garten Pflanzen aus dem Staudenhandel kultivieren, sollten Sie diese auf keinen Fall in der freien Landschaft aussetzen. Das würde die Erhaltungsbemühungen in Berlin und heimische Bestände in Brandenburg aufgrund züchterischer Veränderungen gefährden.
Vielen Dank!
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