Warum Stadtnatur uns gut tut
Stadtökologe Prof. Ingo Kowarik im Interview
Prof. Dr. Ingo Kowarik ist einer der führenden Experten für Stadtökologie und ein echter Pionier, wenn es um die Verbindung von Natur und Stadt geht. Als ehemaliger Berliner Landesbeauftragter für Naturschutz und Mitbegründer des „Langen Tages der StadtNatur“ hat er maßgeblich dazu beigetragen, das Bewusstsein für die wilde, oft unerwartete Vielfalt in unseren Städten zu schärfen. Doch wie steht es um die Zukunft der Stadtnatur? Und was sind die Herausforderungen für den Naturschutz heute? Ein Interview mit ihm gibt Antworten.

Der „Lange Tag der StadtNatur“ stellt dieses Jahr das Thema „Vielfalt“ in den Mittelpunkt. Was bedeutet Vielfalt in der Stadtnatur für Sie – und warum ist sie so essenziell für unsere Städte?
Biodiversität macht glücklich! Aus verschiedenen Untersuchungen wissen wir: Stadtnatur steigert nachweislich unser Wohlbefinden. Farben, Formen, Geräusche und Bewegungen wirken sich positiv auf uns aus. Spannend ist, dass Städte oft artenreicher sind als ihr Umland, weil dort verschiedene Nutzungen zusammentreffen: Es gibt Relikte ursprünglicher Natur, gärtnerisch gestaltete Flächen, Landwirtschaft und urbane Brachen. Besonders in Berlin entstanden durch die Nachkriegsgeschichte große Brachflächen, die eine eigene Art von Stadtnatur hervorgebracht haben. Ich nenne das die „Natur der vierten Art“.
Berlin ist also die Stadt der Biodiversität?
Definitiv! Berliner lieben ja Superlative: Wir haben zum Beispiel die meisten Feldlerchen und Nachtigallen! Doch gleichzeitig geht es vielen Arten nicht besonders gut. Studien zeigen, dass viele Pflanzenpopulationen klein und vom Aussterben bedroht sind. Deswegen ist es wichtig, Naturschutz in die Stadtentwicklung zu integrieren. Naturschutz muss auf 100 Prozent der Stadtfläche stattfinden – durch biodiversitätsfreundliche Pflege von Parks, Straßenbegleitgrün und Brachflächen. Ein Geheimnis der Vielfalt ist dabei die Zusammenarbeit: Gartenämter, Stadtreinigung, Privatleute – alle können etwas beitragen.
Welches Tier oder welche Pflanze in Berlin begeistert Sie ganz besonders?
Naja, man wird ja immer durch seine frühen Erfahrungen geprägt. Und ich habe als Student die Brachflächen südlich vom Tiergarten kennengelernt, im heutigen Diplomatenviertel.
Stimmt, das Areal war ja noch nicht bebaut.
Richtig, auf der einen Seite lag der Tiergarten als gepflegter Park und auf der anderen Straßenseite, war etwas, was ich vorher noch nie gesehen hatte: Brachflächen mit nordamerikanischen Robinien durchwachsen mit Waldreben, die auch nicht in Berlin einheimisch sind. Ich war völlig fasziniert von der Wildnis, die sich da gebildet hat. Diese Kombination aus einheimischen und eingeführten Arten – das hat mich persönlich so berührt und geprägt. Vielleicht bin ich deswegen Stadtökologe geworden. Besonders in Erinnerung geblieben ist mir aus dieser Zeit der Klebrige Gänsefuß. Der bedeckte früher nach dem Krieg in Massenbeständen den Potsdamer Platz. Heute ist er fast verschwunden. Das zeigt: Stadtnatur ist dynamisch, und der Gang der Dinge verändert unsere Artenvielfalt.
Wenn jemand sagt: „Wir brauchen keine Erdkröten, wir brauchen Wohnungen“ – was antworten Sie?
Stadt ist ein geteilter Lebensraum für Menschen und Natur. Die Erdkröte hat genauso ein Existenzrecht! Wir können Bauprojekte so gestalten, dass Natur erhalten bleibt. Und wer sagt, wir müssen immer mehr verdichten, der verkennt, dass Wohnungsdruck nie endet. Städte müssen lebenswert bleiben! Es geht auch um Umweltgerechtigkeit: Menschen brauchen Natur vor der Haustür, nicht nur irgendwo am Stadtrand. Vor allem Kinder haben heute viel weniger Kontakt zur Natur. Und da ist der Lange Tag der StadtNatur eine wunderbare Möglichkeit, denn er führt die Besucher und Besucherinnen auch in die Vielfalt Berlins ein. Und zwar nicht nur die Highlights, die großen Seen, Moore oder Waldgebiete, sondern auch Natur vor der Haustür, wo man vielleicht dauernd vorbeiläuft, aber nie reingeht. Das kann ein Friedhof sein, das kann eine Kleingartenanlage sein oder eine Brachfläche oder ein Kanal oder, oder…
Sie haben den Langen Tag der StadtNatur mitinitiiert. Wie kam es dazu?
Ich war über 20 Jahre Landesbeauftragter für Naturschutz beim Land Berlin. Die Idee entstand im Naturschutzbeirat. Wir wollten Stadtnatur sichtbar machen. Und da dachte ich: Warum nicht wie die Lange Nacht der Museen einen Langen Tag der StadtNatur ins Leben rufen? Und das war der Beginn einer beispiellosen Erfolgsgeschichte: Tausende Berliner kommen jedes Jahr, viele sind Wiederholungstäter. Besonders schön ist, dass auch Familien dabei sind. Das zeigt, dass Stadtnatur für alle da ist! Und ich glaube, das ist der Sinn: Dass man die vielfältigen Aspekte der Stadtnatur anfassbar und anschaulich macht und für ein ganz großes Spektrum an Menschen, die vielleicht nicht immer in der Natur herumwandern, sondern hier zum ersten Mal sehen, dass zum Beispiel auf dem Friedhof nicht nur Gräber sind, sondern interessante Vögel und viele Pflanzen.
Warum ist der Lange Tag der StadtNatur heute wichtiger denn je?
Berlin wächst, der Druck auf Grünflächen steigt. Gleichzeitig brauchen Menschen Natur mehr denn je – für ihr Wohlbefinden, das Stadtklima und als Erholungsort. Und deswegen ist es unendlich wichtig, dass die Menschen auch kennenlernen, was ihnen gut tut. Wie schon erwähnt zeigen psychologische Studien, dass die unmittelbare Erfahrung, das Berühren, das Beobachten, das Anfassen, das Riechen, dass das so wichtig ist für die Naturverbundenheit. Und wer naturverbunden ist, setzt sich dann eben auch eher für die Erhaltung der Natur ein. Großartig finde ich auch, dass so viele Entscheidungsträger mitmachen. Politiker und Politikerinnen haben sonst oft wenig Zeit für Natur. Aber nach dem Langen Tag der StadtNatur wissen sie einmal mehr: Da lohnt es sich, zu investieren!


Hat sich die Wahrnehmung von Stadtnatur in den letzten Jahrzehnten verändert?
Ja, total! Früher galten Brachflächen als „Dreckecken“. Und nach dem Mauerfall war dann das Argument „Wozu brauchen wir die unbebauten Flächen, denn jetzt können wir ja nach Brandenburg zu Erholung! Deswegen kann man also tüchtig bauen." Das hat sich inzwischen doch sehr stark gewandelt. Natürlich gibt es Druck auf viele Flächen, aber dass etwa Brachflächen in der Stadt aus vielen Gründen wichtig sind, das weiß die Politik heute.
Haben Sie ein Lieblingsprojekt, das zeigt, wie Stadtnatur aktiv gefördert werden kann?
Ein tolles Beispiel ist das Tempelhofer Feld: Eine ehemalige Flughafenfläche – heute ein Erholungs-Hotspot für hunderttausende Menschen. Und trotzdem gibt es dort eine stabile Feldlerchen-Population! Das zeigt: Intensive Erholung und Naturschutz können wunderbar zusammenpassen, wenn Flächen klug gemanagt werden.
Gibt es einen Ort in Berlin, an dem Sie selbst immer wieder Neues entdecken, der Sie magisch anzieht?
Ja, das ist ganz klar das Schöneberger Südgelände. Seit den 80ern begleite ich seine Entwicklung, erst wissenschaftlich, dann in der Planung. Die Naturdynamik dort begeistert mich bis heute. So steht zum Beispiel die nicht einheimische Robinie auf dem Südgelände als Teil des „Wilden Waldes“ unter Schutz. Das zeigt, dass die Bewertung „invasiver“ Arten immer vom spezifischen Umfeld abhängt und sie in bestimmten Situationen zur urbanen Biodiversität beitragen können. Also ein spannender Ort für Stadtnatur. Ich bin mehrfach mit Leuten, die oft von außerhalb wegen des Südgeländes anreisen, dort unterwegs und bin immer wieder fasziniert, wie dynamisch die Natur dort ist.

Sie sind jetzt im Ruhestand. Was treibt Sie weiterhin um?
Die Pflichtaufgaben sind weg, jetzt mache ich, was mir Spaß macht! Ich schreibe über Themen, die mich interessieren, wie die Geschichte des vergessenen Berliner Gärtners Christian Ludwig Krause. Ende des 18. Jahrhunderts war er so bedeutend, dass in Reiseführern europaweit sein Garten drin stand und die Leute von überall her kamen, um seinen Garten zu sehen. Außerdem analysiere ich wissenschaftliche Daten – zum Beispiel zu den Ursachen des Artenschwunds. Es gibt so viele spannende Fragen, denen ich nachgehen möchte.
Zum Abschluss: Wie sieht Ihre ideale Stadt der Zukunft aus?
Eine Stadt, in der Biodiversität nicht nur geschützt, sondern aktiv in die Stadtentwicklung integriert wird. Zum Wohle der Menschen, zur Attraktivität der Stadt und für die Natur. Das kann man bei vielen Ansätzen wie Dachbegrünung, Versickungsmulden etc. Damit tut man gleichzeitig etwas für artenreiche Vegetation und damit auch für Wildbienen und viele andere Insekten oder Tiere. Stadt mit Natur entwickeln – das ist die Zukunft!
Sind wir auf einem guten Weg?
Ich bin immer optimistisch!
Interview: S. Bengelsdorf
Am 14. und 15. Juni 2025 ist ganz Berlin dazu eingeladen, die Vielfalt der Stadtnatur hautnah zu erleben und zu genießen. Die Stiftung Naturschutz Berlin präsentiert das Naturfestival mit mehr als 500 Veranstaltungen an über 150 Orten. Naturbegeisterte Expert*innen teilen ihr Wissen und zeigen, wie facettenreich Berlin ist, wenn Natur auf Stadt trifft.
Infos unter: www.langertagderstadtnatur.de