Müllomania - Straßentheater
"Das ist Straße, einfach"
Abendstimmung in Kreuzberg: Vor den Cafés und Restaurants am Planufer sitzen Leute, essen, trinken, lachen, Fahrräder flitzen vorbei, Kinder spielen auf der Grünfläche, Freunde treffen sich auf ein Bier mit Blick auf den Landwehrkanal. Hinein in das Stimmengewirr, Geschirrgeklapper, Gelächter und Gemurmel mischt sich plötzlich, kaum hörbar, eine leise Melodie. Leicht jazzig und unaufdringlich zieht sie sich durch die Abendluft. Ohren spitzen, Köpfe drehen sich: Woher kommt die Musik?
Auf der Admiralbrücke entdeckt man zwei Gestalten, die zu den Klängen gerade ein Tänzchen wagen: „Die Zilles“, eine Oma und ein Opa mit riesigen Pappmaché-Köpfen, bewegen sich zur Musik vor und zurück, winken sich zu, halten sich an den Händen, machen sich den Hof.
Dann entdecken sie drei Mülltonnen, die scheinbar zufällig im Weg stehen, und heben neugierig einen Deckel an. Zum Vorschein kommt ein langes, grünes Seil, das sich nicht nur zum Tauziehen eignet, sondern sich auch als Dusche oder Telefon benutzen lässt. Interessant, was aus Abfall alles neu entstehen kann!
Als die Musik verstummt, springen vier Straßenkehrer*innen mit knallroten Hemden und Besen in die Szenerie, rennen vor und zurück und wirken sehr geschäftig. „Manchmal hat man eine sehr lange Straße vor sich, man denkt, sie ist so schrecklich lang – das kann man niemals schaffen, denkt man!“, ruft einer. „Und dann fängt man an, sich zu eilen! Und man eilt sich immer mehr. Jedes Mal, wenn man aufblickt, sieht man, dass es gar nicht weniger wird, was noch vor einem liegt.“ – „Und man strengt sich noch mehr an, man kriegt es mit der Angst, und zum Schluss ist man ganz außer Puste und kann nicht mehr. Und die Straße liegt immer noch vor einem. So darf man es nicht machen!“
„Müllomania“ auf den Straßen Berlins
Schon bei der ersten Szene sind einige Menschen stehen geblieben, um das Geschehen zu beobachten. Spätestens bei den lauten Rufen, einem Text von Beppo Straßenkehrer aus Michael Endes „Momo“, ist man auf einmal mittendrin. Hier ist ja was los!
Die Straßentheater-Performance „Berlin die Ratten Kommen“ wagt sich in diesem Spätsommer wieder auf den Asphalt – mit ihrem Stück „Müllomania“. Die Gruppe bringt das Publikum in eine skurrile Welt, in der Müllvermeidung, Plastikflut und Abfalltrennung große Rollen spielen. Gefördert wird das Projekt aus Mitteln des Förderfonds Trenntstadt Berlin.
Weit über 280 Millionen Tonnen Plastik wurden in den vergangenen Jahren jährlich weltweit produziert. Bis eine Plastiktüte vollständig zerfällt, benötigt sie je nach eingesetztem Kunststoff zwischen 100 und 500 Jahren.
Ob im Auto, in der Wohnung, im Fernseher, im Computer oder in der Kleidung – Plastik ist einfach überall. „Die Erde ist zu einem Plastikplaneten geworden“, meint Regisseurin Andrea Bittermann, die es sich mit ihrem Team zur Aufgabe gemacht hat, gesellschaftliches Bewusstsein und Beteiligung im Umgang mit dem Thema Müll zu schaffen. Im Sommer 2012 fing alles an, in Rattenkostümen tritt das kleine Ensemble seitdem an öffentlichen Plätzen in Aktion und macht die Zuschauer*innen auf diese wichtigen Themen aufmerksam.
Performance mit direktem Feedback
„Auf der Straße kriegt man direkt gespiegelt, ob das, was man macht, ankommt“, sagt Schauspieler Lorenz, der schon lange Mitglied der Gruppe ist. „Wenn Kinder da sind, sind sie sehr direkt und ehrlich – viel spitzfindiger und genauer als die Erwachsenen, weil sie diese Themen oft noch viel wichtiger finden.“
Es sei schön, zu sehen, wie Menschen sich von der Performance berühren lassen und wie sie von dem Überraschungsmoment mitten auf der Straße mitgenommen werden. „Wir machen nicht nur Entertainment, sondern wollen mit unserem Theater auch wirklich etwas verändern.“ Es geht aber nicht darum, den Zeigefinger zu erheben, sondern klar zu machen, dass richtige Mülltrennung und die Vermeidung von Plastikmüll drängende Themen unserer Zeit sind.
Straßentheater sei eine gute besonders gute Plattform für Botschaften wie diese, sagt Lorenz. Gleichzeitig ist Straßentheater eine Bühne von 360 Grad, auf der eine Performance besonders herausfordernd sei. Das zeigt sich deutlich, als ein angetrunkener, älterer Mann mit in die Vorstellung gerät, der wahnsinnig gerne mitmachen will. Doch die vier Schauspieler*innen sind professionell und meistern die Szene, ohne aus ihren Rollen zu fallen.
„Straßentheater ist die schwerste Disziplin, das ist das beste Training“, meint auch Milos, der seit 2020 bei den „Ratten“ ist. Eine Situation wie diese – „das ist Straße, einfach.“ Das Wichtige: Hier kann man Theater für alle machen und erreicht das Publikum ganz unmittelbar – „un-digital“, in direktem Kontakt. „Man merkt, Menschen bekommen beim Zuschauen ein Bewusstsein für die Thematik, manche bedanken sich sogar und man kommt im Anschluss auch ins Gespräch“, sagt Milos. Da erinnern sich Leute zum Beispiel daran, wie „früher einfach alles in eine Tonne geworfen“ wurde und tauschen sich mit den Darsteller*innen auch über den Klimawandel aus.
Intensiv, chaotisch, mittendrin
„Die Tage vor unseren Auftritten sind immer wie ein kleines Boot-Camp“, sagt Milos. Zehn Tage am Stück proben die Schauspieler*innen mit Regisseurin und Choreographin, bis alles sitzt. „Das ist anstrengend, aber auch sehr familiär, und immer wird eine tolle Sache draus“, findet Lorenz. Andrea Bittermann gibt ein Konzept vor, an dem das Ensemble zusammen arbeitet, Texte entwickelt, Szenen erweitert und Elemente kombiniert. „Für mich ist es mittlerweile ein richtiges Herzensprojekt“, gesteht Milos.
Wer den „Ratten-Punk“ noch nicht kennt, mehr über den Traumjob Straßenkehrer*in lernen oder ein Kunstwerk aus Müllbergen bestaunen will, sollte jetzt in Berlin die Augen offenhalten: „Die Ratten“ spielen noch bis Anfang Oktober an verschiedenen Orten. Einfach ganz genau lauschen, ob irgendwo eine leise Jazz-Musik erklingt – das könnte die erste Szene aus „Müllomania“ sein!
Bilder & Text von Christina Koormann