Der Friedhof und seine botanischen Schätze
Es erstaunt mich immer wieder: Noch vor wenigen Minuten habe ich mich mit dem Rad durch den dichten Berufsverkehr auf der Arnulfstraße gequält – Lärm, Gestank und Hektik. Jetzt steht das Fahrrad abgeschlossen neben mir und ich fühle mich wie in einer anderen Welt. Alles ist langsam, alles ist ruhig. Ich bin angekommen auf dem Friedhof Eythstraße in Schöneberg.
So wie mir scheint es vielen Menschen zu gehen. Immer wieder trifft man hier auf Besucher*innen, die es sich auf einer Bank gemütlich machen, die am Krummen Pfuhl die Stockenten beobachten oder die bei einem kleinen Spaziergang zur Ruhe kommen. Natürlich ist der Friedhof Eythstraße in erster Linie ein Ort der Trauer und des Gedenkens an die Toten. Er ist aber gleichzeitig ein Rückzugsraum in der trubeligen Großstadt.
Wenn man genau hinsieht, merkt man schnell: Dieser Rückzugsraum wird nicht nur von uns Menschen geschätzt. Auch viele Tiere und Pflanzen haben den Friedhof für sich entdeckt. Mit seinen alten Bäumen, Rasen- und Wiesenflächen, den mit Blumen geschmückten Gräbern und den kleinen, mitunter wilden Ecken bietet er einen vielfältigen Lebensraum. Und das bereits seit über hundert Jahren.
Es ist also nicht verwunderlich, dass genau hier, auf dem Friedhof Eythstraße, mitten im Bezirk Tempelhof-Schöneberg, gleich vier in Berlin vom Aussterben bedrohte Pflanzenarten vorkommen: das Gefleckte Habichtskraut (Hieracium maculatum), das Wiesen-Habichtskraut (Hieracium caespitosum), das Täuschende Habichtskraut (Hieracium fallax) und das Ungarische Habichtskraut (Hieracium bauhini).
Mit ihren gelben körbchenförmigen Blütenköpfchen sehen die Habichtskraut-Arten ein bisschen aus wie Löwenzahn. Die Blattrosette sitzt dicht über dem Boden und ihre Samen besitzen Flugschirmchen, die der Wind weit verweht. Wenn man nicht weiß, wonach man Ausschau halten muss, nimmt man die eher unscheinbaren Pflanzen beim Friedhofbesuch gar nicht wahr.
Für den Naturschutz ist das Vorkommen dieser seltenen Pflanzen ein außergewöhnlicher Schatz. Um diesen Schatz zu erhalten, ziehen viele gemeinsam an einem Strang: das Tempelhof-Schöneberger Straßen- und Grünflächenamt, das Umwelt- und Naturschutzamt des Bezirks und wir Stadtnatur-Ranger*innen.
Zunächst haben wir auf einer Karte des Friedhofes markiert, wo und wie viele Habichtskraut-Arten wachsen. Diese Karte zeigt, wo aus Sicht des Naturschutzes die besonders wertvollen Bereiche sind. Praktischerweise wachsen die Habichtskräuter gern an ungestörten Stellen. Hier müssen wir Naturschützer*innen nur hin und wieder nach dem Rechten sehen. In anderen Bereichen des Friedhofs wachsen die seltenen Pflanzen hingegen mitten auf einem Rasen oder einer Wiese. Werden diese zu häufig gemäht, schaffen es die Habichtskraut-Arten nicht, rechtzeitig Blüten und Samen auszubilden. Aus diesem Grund werden nun bestimmte Bereiche des Friedhofes im Frühjahr seltener gemäht. Manchmal wachsen die seltenen Habichtskräuter auf Flächen, die nach Grabauflösungen neu gestaltet werden. Da hilft dann nur eines: Mit Schippe und Gießkanne werden die Pflanzen vor den Bauarbeiten in Sicherheit gebracht und an einem neuen Standort eingepflanzt.
Außerdem machen wir Stadtnatur-Ranger*innen noch etwas, das wir in unserer Fachsprache Mikrohabitatpflege nennen: Wir schaffen an den jeweiligen Standorten bestimmte Bedingungen, die den Habichtskräutern nutzen. Zum Beispiel entnehmen wir Baumkeimlinge, die die seltenen Kräuter verdrängen, und im Herbst entfernen wir Laub, wenn es zu dicht wird.
2014 wurden auf einer Baufläche in der Nachbarschaft des Friedhofs Habichtskräuter entdeckt – gerade noch rechtzeitig, bevor die Bagger losrollten. Diese Bestände konnten durch die Koordinierungsstelle Florenschutz der Stiftung gemeinsam mit der Unteren Naturschutzbehörde behutsam ausgegraben und auf dem Friedhofsgelände wieder eingepflanzt werden. Das war ein großes Glück, denn „unsere“ vier Habichtskräuter wachsen außer auf dem Friedhof Eythstraße nur noch an ganz wenigen anderen Orten in Berlin. Einer dieser Orte ist übrigens das Schöneberger Südgelände, das von dem Friedhof nur durch einen Wohnblock und die Bahn getrennt ist. Das Habichtskraut-Vorkommen auf dem ehemaligen Rangierbahnhof war einer der Gründe, warum das Südgelände als Naturschutzgebiet ausgewiesen wurde.
Es ist schön mitzuerleben, wie es auf dem Friedhof Eythstraße gelingt, die Bedürfnisse von Mensch und Natur zusammenzubringen. Jetzt, wo es viele Berliner*innen in die Stadtnatur zieht, finde ich das besonders wichtig.
– Tjorven Tenambergen