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Pilotprojekt Vielfalt Leben

Die Zahl der Wildbienenarten mehr als verdoppelt, ein Vielfaches an Blüten für Insekten, viermal so viele Spatzen wie vor drei Jahren – wie ist das möglich?
Die Stiftung Naturschutz und die Wohnungsgenossenschaft Märkische Scholle beweisen, wie sich ein typisches Berliner Wohnumfeld mit einfachen Mitteln in ein Paradies für Menschen, Tiere und Pflanzen verwandelt.

Biologische Vielfalt vor der Haustür

Berlin wächst, urbane Freiflächen werden immer knapper. Um den grünen Charme Berlins, die Lebensqualität und die Berliner Pflanzen- und Tierwelt auch weiterhin zu erhalten, kann nicht nur Wohnraum nachverdichtet werden. Auch die verbleibenden Außenräume bedürfen dringend einer sanften Innenentwicklung. Wie das geht, dass weniger manchmal mehr ist und welche Erfolge sich bereits nach kurzer Zeit verbuchen lassen, zeigen wir Ihnen hier.

Die Mieter der Märkischen Scholle in Tempelhof leben in einem großzügigen, grünen Umfeld. Zwischen den Reihen der mehrstöckigen Häuser liegen Spielflächen und stehen zum Teil große, alte Bäume. Aber in vielem waren die Außenanlagen bis vor kurzem vergleichbar mit denen anderer Wohnanlagen. Dominiert von Scherrasen und nicht einheimischen, kurz geschnittenen Gehölzen waren nur wenige Schmetterlinge und Blüten zu sehen und immer weniger Vögel und Bienen zu hören. Die Flächen wurden aufwändig, aber unökologisch gepflegt, so, wie es sich über Jahrzehnte vielerorts durchgesetzt hat. Das sollte sich ändern.

Seit 2017 ist diese Siedlung Schauplatz des Pilotprojektes „Vielfalt leben“, mit dem die Stiftung Naturschutz Berlin und das Wohnungsunternehmen beweisen, wie erfolgreich eine ökologische Grünflächenpflege mit behutsamer Umgestaltung sein kann, um Lebensräume für Pflanzen und Tiere in der Stadt zu erhalten, auszubauen und dabei erlebbaren Mehrwert für die Mieter*innen zu schaffen. Damit wurde ein Beispiel geschaffen und ausgewertet, an dem sich Nachahmer orientieren können. Ein beachtlicher Teil Berlins besteht aus Wohnflächen und birgt ein großes Potential für eine ökologische Aufwertung.

 

Sichtung der Potenziale

Wichtig war es, sich im Vorfeld von der vorhandenen Tier- und Pflanzenwelt ein Bild zu machen, um später durch einen Vorher-Nachher-Vergleich belegen zu können, ob die ökologischen Maßnahmen den gewünschten Effekt erzielten. Die Bestände einiger Insektengruppen waren recht klein, wie zum Beispiel die Gruppe der Tagfalter, von der nur drei Arten gefunden wurden. Anhand der Bestände von (Wild)bienen können Rückschlüsse auf die ökologische Qualität eines Standortes gezogen werden, da sie sehr sensibel auf Veränderungen ihrer Lebensräume reagieren. Diese Gruppe war mit nur 21 Arten vertreten.
 
Sehr interessant waren die schon vor vielen Jahrzehnten angelegten Rasenflächen, da wimmelte es nur so vor Wildkräutern, ganze 135 waren zu finden. Das regelmäßige Mähen des Rasens allerdings machte es nicht nur den Raupen der Tagfalter schwer, Nahrungspflanzen zu finden, sondern auch den Vögeln. Denn oft kam der Rasenmäher, bevor es auch nur eine Blüte schaffte, einen für Vögel schmackhaften Samen hervorzubringen. Außerdem wurden durch die Mahd nur konkurrenzstarke Grasarten mit geringem ökologischen Wert gefördert. Durch die umliegenden parkähnlichen Anlagen wie dem Alten Park und dem Franckepark und die in der Nähe liegenden Kleingartenanlagen kamen trotzdem einige gefiederte Besucher in die Höfe, Stare und Sperlinge hatten hier sogar einen festen Wohnsitz. Mit reichlich nicht einheimischen und ökologisch wenig wertvollen Sträuchern wie der Schneebeere und der Forsythie machte die Mode der Zeit aber auch vor den Höfen der Märkischen Scholle nicht halt.

Nach Auswertung der ersten Sichtungen war klar: Die Höfe bieten eine Menge Potenzial durch geeignete Maßnahmen, den Lebensraum für Tiere, Pflanzen und Menschen aufzuwerten. Bestehende Tier- und Pflanzengesellschaften könnten gestärkt, bislang zerschnittene Lebensräume miteinander verbunden werden. Schon vor der Planung wurden den Mietern grundlegende Fragen beantwortet und durch einen Fragebogen die Wünsche der Bewohner ermittelt. Dass das Interesse an einer naturnahen Umgestaltung der insgesamt fünf Höfe bei den Anwohnern groß war, bewies die mit fast 30 Prozent auffällig hohe Beteiligung an dieser der Planung vorausgehenden Umfrage. Auch die konkreten Umgestaltungsideen zu den einzelnen Höfen wurden präsentiert, erläutert und zur Diskussion gestellt. Wer wollte, konnte sich in kleineren Arbeitsgruppen engagieren. Für Überraschung sorgte aber nicht nur die hohe Beteiligung, sondern auch das Interesse an einer naturnahen Gestaltung vor der eigenen Haustür. Denn die Mehrheit der Bewohner befürwortete Steinhaufen für Eidechsen, Beerensträucher und Wildblumenflächen.Teure Umbauten wie eine Boulebahn dagegen wurden ziemlich deutlich abgelehnt. Akzeptanzfördernd war sicher auch die Zusicherung von Wohnungsgenossenschaft und Stiftung, dass der Umgestaltungsprozess sanft vonstattengehen wird. Statt einer kompletten Neugestaltung der Höfe wurde Vorhandenes mit gezielten und einfachen Maßnahmen weiterentwickelt, umgestaltet und ergänzt. Ebenfalls ein wichtiges Argument:  Die Umgestaltung führte nicht zu Mietsteigerungen.

 

Lieber erhalten und entwickeln als neu anlegen

Den fünf Höfen wurden zu ihrer Struktur passende, identitätsstiftende und sympathische Namen gegeben: Meisen- und Schmetterlingshof, Beeren-, Igel- und Kräuterhof. Der Meisen- und der Schmetterlingshof waren 2018 die ersten Höfe, in denen der Rasen zur Wiese aufwachsen durfte. Statt neu anzusäen, wie es meist gemacht wird, konnte mit dem großen Potenzial der bereits vorhandenen Arten gearbeitet werden. Unter den Gehölzen wurden bodendeckende Wildstauden gepflanzt, Forsythien gegen heimische Gehölze getauscht. Diese werden jetzt fachgerecht geschnitten, so dass sie naturgemäß wachsen können. So bieten sie mit ihren Blüten und Früchten sowohl Insekten als auch Vögeln Futter und Lebensraum. Die Umgestaltung der Strauchflächen führte zu einer vielfältigen Strukturierung der Höfe (die Planungsleistungen für die Umgestaltung der Höfe erfolgte in Zusammenarbeit mit der Landschaftsarchitektin Susanne Pretsch). Sonnige und schattige Bereiche, dichte und lockere Vegetation, Kräuter, Gräser und Gehölze – das ist das Rezept für ein Mosaik an Lebensräumen, das eine Vielzahl von Tieren anzieht. Und für den Menschen ist das Summen, Brummen und Flattern Erholung pur.

Das Ausbringen von Pflanzen und Saatgut aus gesicherter regionaler Herkunft bedeutet, dass einheimische Arten gepflanzt werden, deren Elternpflanzen seit Generationen in Berlin aufwuchsen. Was penibel erscheint, hat einen für die Pflanzen wichtigen Hintergrund: Regionale Anpassungen der Arten an ihre Umgebung bleiben erhalten. Das erhöht die Überlebenschancen bei Pflanzen, die ohne Bewässerung und Dünger zurechtkommen müssen. Die Eltern und Großeltern der Grasnelke (Armeria maritima ssp. elongata), die in die Rasenflächen gepflanzt wurde, stammen zum Beispiel aus dem Berliner Umland. Nicht genug, dass ihre langstieligen Blütenköpfchen hübsch anzusehen sind, die Zielart des Berliner Florenschutzkonzeptes ist auch für viele Insekten eine attraktive Nektar- und Pollenquelle.